Lars Wernecke
Intendant Theaterregisseur Theaterautor

2012 Ein Volksfeind

Der Volksfeind
von Hendrik Ibsen

Inszenierung: Lars Wernecke
Bühnenbild: Helge Ullmann
Kostüme: Annette May

Mit Ingo Brosch, Anja Lenßen, Anne Rieckhoff, Michel Jeske, Uli Kunze, Harald Schröpfer, Lukas Benjamin Engel, Matthias Herold, Achim Rodewald
 







 

Pressestimmen

IM GESPRÄCH MIT LARS WERNECKE
Menschen, Märkte, Meinungsmacher
Regisseur Lars Wernecke über die Eröffnungs-Inszenierung im Meininger Schauspiel „Ein Volksfeind“
Es ist eines der meistgespielten Stücke der Saison und handelt in fesselnder Dynamik von Aufklärung und Vernebelung, der Trennung von Wahrheit und Recht, dem Kampf des Individuums gegen die Menschenmasse. Dabei ist das Werk heute schon beinahe 130 Jahre alt, doch der Klassiker trifft genau ins Herz. Ein Stück wie eine moderne Analyse des menschlichen Mit- und Gegeneinanders.
Herr Wernecke, für „Cabaret“ wurden Sie und ihr Team mit der Auszeichnung „Inszenierung des Jahres 2011“ geehrt, bedeutet das für Ihren „Volksfeind“ einen hohen Erwartungsdruck?
Das künstlerische Team von „Cabaret“ hat sich sehr über die Anerkennung gefreut. Und das hat eher eine motivierende Wirkung gehabt, sich gemeinsam auf ein neues Abenteuer zu stürzen. Mit Ibsens „Volksfeind“ haben wir uns dabei in einem ganz anderen Sujet begeben. Da gibt es nichts zum Mitklatschen sondern zum Mitdenken und Aufregen. Ein Ibsen ist eben kein Musical und doch ebenso dicht am Publikum.
Die Nähe zum heutigen Publikum belegt die Präsenz auf den Spielplänen: „Ein Volksfeind“ steht derzeit überall im Rampenlicht. Wie kommt’s?
Ich denke, es gibt kaum einen modernen Klassiker, der aktueller wäre. Aufhänger sind die erheblichen Probleme bei einem sehr ehrgeizigen Städtebauprojekt. Man kennt das zurzeit ja z.B. bei dem Großflughafen in Berlin, dem Nürburgring, dem Zentralbahnhof in Stuttgart oder Hamburgs Elb-Philharmonie. Man fragt sich zuweilen, ob sich die Verantwortlichen aus der Politik damit nicht erheblich übernehmen? – Hier ist es ein neues Kurbad in einem kleinen Ort in Südnorwegen. Eine Einrichtung, von der dort alles abhängt, die die gesamten Einnahmen der Region erwirtschaftet. Und nun stellt man fest, dass deren Wasser durch die anliegende Industrie gesundheitsgefährdend verunreinigt wird.
Ein Heilbad als Giftküche, das klingt wie eine Feuerwache als Brandbeschleuniger.
Ja, aber die Probleme der Einrichtung sind gar nicht der eigentliche Kern des Stückes, sondern wie man mit Ihnen umgeht. Es muss gesellschaftspolitisch gehandelt werden, Verantwortung übernommen und nach Lösungen gesucht werden. Da dreht es sich um das Funktionieren unserer Mehrheitsbildung. Wie geht das eigentlich vonstatten? Wie stark wird dabei manipuliert? Wer sind die Meinungsmacher? Hat die Wahrheit überhaupt eine Chance?
Welche „Wahrheit“? Da gibt es ja meist mehrere.
Genau. Und darum soll in meiner Inszenierung das Dilemma jeden umtreiben. Es gibt kein einfaches Richtig und Falsch, kein Böse und Gut: Da ist der Kurarzt, der feststellt, dass das Wasser vergiftet ist, und damit natürlich objektiv Recht hat, dass etwas geschehen muss. Aber da gibt es auch den Bürgermeister mit einer Wahrheit, wenn er sagt, dass die gesamte Stadt und sogar die Privatleute ruiniert wären, wenn das Bad zweieinhalb Jahre für kostenaufwändige Umbaumaßnahmen schließen müsste!
Das heißt, die Lobbyisten vertuschen die Tatsachen?
Jeder sieht seine eigenen Interessen: Die Journalisten haben die Steigerung der Auflagenzahl ihres Blattes im Blick, die Immobilienbesitzer fürchten um die Entwertung ihrer Objekte, die Gerbereien sind um ihr Ansehen besorgt, viele Arbeitsplätze sind bedroht und so weiter und so fort. Kurzum, jeder beharrt auf seinem vermeintlichen Recht.
Die Vergiftung der gemeinsamen Grundlagen kann man doch aber nicht einfach auf sich beruhen lassen!
Der Entdecker der Katastrophe bleibt hartnäckig und begibt sich durch eine Rede ans Volk in Teufels Küche. Und so gerät die Entwicklung der Ereignisse völlig außer Kontrolle. Ibsen hat ein Stück geschrieben über jemanden, der auf Grund seiner Untersuchungen glaubt, Recht und Wahrheit in Händen zu halten und folglich darauf besteht. So steigert er sich in eine Dynamik, von der er selbst nie geglaubt hätte, dass es sie gibt. Am Ende prangert er das ganze Volk an.
Die Demokratie versagt?
Wir müssen erkennen, dass nicht jede Mehrheitsbildung auch automatisch Wahrheitsfindung bedeutet. Es ist leicht, eine Meinung zu haben, aber sehr schwer, sich eine Meinung zu bilden. Wahre Demokratie ist somit kein Selbstläufer sondern harte Arbeit – Wie leicht und plötzlich wird in den Medien ein einzelner bislang verehrter Streiter zu einem „Volksfeind“ ausgerufen, das läuft in blitzschnellen Ablehnungsreaktionen.
Das Thema „Verantwortung“ als vereinnahmender Sprengsatz in einem Schauspiel?
Ja, Ibsen ist das Kunststück gelungen, auf sehr unterhaltsame Weise ein Stück zu präsentieren, das das Versagen des gesellschaftlichen Miteinanders seziert. Es bietet brillante Dialoge, feine Ironie, impulsive Bewegung und eine exzellente Dramaturgie.

Interview im Spektakel von Dirk Olaf Handke, September 2012


Henrik Ibsens "Volksfeind" wird am Donnerstag (31. Januar) im Großen Haus des Meininger Theater wiederaufgeführt. Das Stück erzählt von einem Kurarzt, der verseuchtes Wasser in seiner Stadt entdeckt und damit die Zukunft des Kurbads aufs Spiel setzt. Die aktuell-politische Brisanz mehr als 100 Jahre nach der Uraufführung dieses Schauspiels wird vom Publikum unterschiedlich reflektiert. Ein Grund für ein Gespräch mit dem Regisseur Lars Wernecke.
Herr Wernecke, das Thema von Ibsens "Volksfeind" ist brisanter denn je. Springt der Funke auch beim Publikum über oder gibt es zu wenig Wutbürger in Meiningen?

Mein Eindruck von den Zuschauern, mit denen ich nach der Vorstellung gesprochen habe, ist, dass der Nacheffekt sehr groß ist und der Abend zum Nachdenken anregt. Ich habe versucht, mit meiner Inszenierung den Konflikt und die Figuren möglichst klar darzustellen. Aber die Figuren im Stück handeln alles andere als klar. Sie sind undurchsichtig und gegenteilig. Dadurch schwankt auch der Zuschauer hin und her. Er folgt der Meinung einer Person und plötzlich steht er auf der anderen Seite der anderen Person, die ihm vorher noch unsympathisch erschien. Genau das war das Ziel meiner Inszenierung. Ich wollte den Wutbürger also gar nicht befriedigen. Und auch nicht vordergründig heutig inszenieren, sondern zeitlos, ohne auf konkrete Persönlichkeiten anzuspielen. Es gibt ja auch Regisseure, die Frau Merkel auf die Bühne bringen. Das kann man zwar machen, mir war aber die Allgemeingültigkeit, die zum Denken anregt, wichtiger.
Als Zuschauer wird man vor allem nach der Pause überrascht. Bei der öffentlichen Rede des Kurarztes geht man auf Distanz zu dem kritischen Geist, der sich als elitärer Fatalist entpuppt...
In dieser Szene kommen oft heftige Reaktionen im Publikum. Ich habe die Originalrede von Ibsen so belassen. Sie wird von Regisseuren oft ausgetauscht mit heutigen Reden. Aber ich finde, dass diese Rede heute noch wenn auch eine konträr deutbare Gültigkeit hat und man über sie nachdenken kann. Ich habe die Struktur von Ibsens Text belassen. Der Zuschauer steht dadurch auf schwankenden Boden, denn den positiven Helden, den er vorher in dem Volksfeind zu erkennen glaubte, den gibt es eigentlich gar nicht. Plötzlich denkt auch der Zuschauer, der Bürgermeister, sein Gegenpart, hat völlig recht, wenn er das Kurbad verteidigt. Das ist für mich das Schillernde und Interessante an diesem Stück, das ich sehr liebe. Deswegen wollte ich es auch nicht eindeutig auf das Gute und Böse hin inszenieren. Ich will zeigen, wie es im wirklichen Leben ist, beispielsweise mit Politikern. Ich komme aus Berlin und wenn ich die Geschichte mit Herrn Wowereit sehe, der immer beliebt war und jetzt der absolute Buhmann ist, weil er mit dem Flughafen Mist gebaut hat, dann ist das ähnlich. Dieses Schwanken ist bei Ibsen so konzipiert und das hat mich als Regisseur gereizt.
Ibsen hat dem Kurarzt sein eigenes Gedankengut in den Mund gelegt. "Die Minorität hat immer das Recht", behauptet er. Alles andere sei eine gesellschaftliche Lüge, "gegen die ein freier, denkender Mann sich empören muss". Stößt das nicht gegen unser heutiges Demokratieverständnis?
Auch das finde ich spannend. Wobei ich nicht vordergründig Ibsens bösartigen Einstellungen zeigen wollte. Aber die Zeiten haben sich gewandelt, zwei Weltkriege liegen dazwischen, unser Demokratieverständnis hat sich entwickelt. Mit all diesen Erfahrungen können wir Ibsen und seinen Kurarzt, der sich in seine Ideen verstrickt, nicht mehr folgen. Für Ibsen ist der Kurarzt bis zum Schluss ein Held. Für uns dagegen ein gescheiterter Held. Der Kern seiner Idee ist: Die Masse schafft es nie, die Wahrheit zu finden, sondern die Masse manövriert sich durch eigene Interessen oder durch Trägheit. Das ist sogar richtig, aber die Schlussfolgerung, die Ibsen dem Kurarzt in den Mund legt, können wir heute nicht mehr so tragen. Deswegen wollte ich auch den Originaltext beibehalten. Denn ich bin der Meinung, dass der Zuschauer soweit mitdenken muss und am Ende seine eigene Meinung fassen und nicht nur eine vorgesetzt bekommen soll.
Eine mutige Entscheidung, denn viele Zuschauer würden wohl lieber mit dem Kurarzt sympathisieren und sich empören ...
Auch das Nachdenken darüber, ob jedes auf die Straße gehen per se etwas Gutes ist oder man nicht viel mehr differenzieren und nicht auf jeden fahrenden Zug aufspringen muss, ist wichtig. Ein bewusstes Einmischen und Verändern ist gut, aber nur mal so mitgehen und blindlings drauflos stürmen, ist zu wenig. Man muss schon aktiv denken. Der positive Kern von Ibsens Idee ist für mich: Erst denken, dann mitmachen.
Handeln Sie sich damit als Regisseur aber nicht auch den Vorwurf ein, die direkte politische Auseinandersetzung gescheut zu haben?
Als Regisseur kann ich dazu nur sagen, dass ich von Anfang an nicht den - in meinen Augen - einfachen, Applaus heischenden Weg gehen wollte. Sicherlich ist es der leichtere. Aber es hat mich auch gereizt, zu sehen, was mit solch einer Sicht auf das Stück passiert. Schon bei der Leseprobe habe ich versucht, die Schauspieler zu überzeugen. Sie sind alle bis zum Schluss mitgegangen. Für mich als Regisseur ist das weniger ein mutiger als vielmehr spannender Weg, wenn man das Publikum am Ende in einer unbefriedigten Haltung lässt. So unbefriedigend, wie das Leben heute eben ist. Wir regen uns heute über den Flughafen in Berlin oder etwas anderes auf, aber es gibt keine befriedigende Lösung. Den Herrn Platzeck, Wowereit oder wen auch immer auf den Scheiterhaufen zu bringen, ist nicht besser und schon gar nicht die Lösung des Problems...

Interview im Freien Wort mit Carola Scherzer am 31.1.2013

Ibsen erzählt sehr viel weniger vom Kurbad, vom durch Gerbereien versauten Grundwasser, von falsch verlegten Wasserleitungen als von Doktor Stockmann. Den spielt Ingo Brosch in Meiningen vollkommen zu Recht nicht als Mann, mit dem man sich identifizieren kann. Dieser Badearzt hat wie alle anderen Männer im Stück (die beiden Frauen erst einmal ausdrücklich ausgenommen) private Interessen, die all sein Handeln bestimmen, und zwar auch und vor allem dort und dann, wo er sich dessen nicht bewusst ist. Er verrät sich wie alle anderen Männer auch. Die Regie hat die Rollen durchweg so spielen lassen, dass sie im Nebeneffekt jeweils Selbstentlarvung betreiben. Unter den Zuschauern [...] war immer wieder Verblüffung zu vernehmen, wenn zweite oder wahre Gesichter erkennbar wurden. [...] Ibsen hat seine Figuren alle, nicht nur den seltsamen Helden Stockmann, so charakterisiert, dass ihnen fast ohne Übergang Zustimmung gegeben oder Ablehnung bis Verachtung gewidmet werden kann oder muss. Wer eben sympathisch erschien, ist plötzlich ein knallharter Egoist. Wer eben liberale Gesinnung erkennen ließ, ist plötzlich engstirnig und ohne Rückgrat. Und die beiden Frauen? Anja Lenßen als Katharina Stockmann, Anne Rieckhof als Tochter Petra Stockmann? Ihnen will am ehesten reine Sympathie zufliegen. [...] Der „Volksfeind“ Doktor Stockmann, den Ingo Brosch [...] so vorführte, dass einem Angst und Bange werden konnte, geht am Ende in einen Ibsen-typischen offenen Schluss. Seine sich bis in Ausrottungsphantasien steigernde Selbstüberhebung macht ihn zum Typus, der in der Realität schon „Öko-Faschist“ genannt wurde. [...] Die Szenerie im Hause des Kapitäns Horster, der als einziger einen Raum zur Verfügung stellte für den Vortrag Stockmanns, bezog den gesamten Saal ein, Versammlungsleiter und Redner wandten sich vom Podest an das Premierenpublikum, als wären es die stimm-berechtigten Bürger. Phasenweise spielte das Publikum richtig mit. [...] Die scheinbar aristokratischen, scheinbar volksfeindlichen Thesen von der dummen Mehrheit, die Doktor Stockmann bis zum Crescendo gesteigert vortrug als Ersatz für seine ihm verbotene Darlegung des Wasserskandals, die irritierten. Das war vielleicht die nützlichste Wirkung des Abends, der viel Beifall erhielt.

Auszug aus den Theatergängen von Dr. Eckhard Ullrich im Oktober 2012

Lars Wernecke inszeniert Ibsens "Ein Volksfeind" in Meiningen. Er packt das Drama in zweieinhalb wortgewaltige Stunden. Meiningen - "So isses!" - eine Meinung, die an diesem Abend öfter zu hören ist. Selbst der Dramaturg freut sich, dass Bürgermeister, Gemeinderäte und sogar ein Landrat im Publikum sitzen. Auch die Zeitungsschreiberlinge kriegen in Ibsens Drama "Ein Volksfeind" ihr Fett ab, die kleinen Machthaber in der Provinz, das gemeine Volk und sogar die Tugendbolde. Warum aber nach 130 Jahren immer noch das "So isses"? Diese Reaktion des Publikums ist das wichtigste Phänomen bei der Inszenierung des Lehrstücks über die bürgerliche Moral im Großen Haus des Meininger Theaters. Anscheinend nimmt die Mehrheit der Zuschauer an, an der inneren und äußeren Verfassung der Menschen habe sich seit 1882 substanziell wenig geändert: Skandal in einem kleinen Kurort, den Regisseur Lars Wernecke ("Cabaret"), Bühnenbildner Helge Ullmann und Kostümbildnerin Annette May aus dem historischen Ambiente in einen abstrakten Raum zwischen den Zeiten setzen, mit Tendenz zum Hier und Jetzt und Irgendwo. Ein faszinierendes Bild - die Guckkastenbühne auf der Bühne, in der gerade das Leben im Hause des Badearztes eskaliert, während es im Keller, für jedermann sichtbar, aus der verrosteten Wasserleitung tropft. [...]

Auszug aus der Neuen Presse Coburg von Siggi Seuss am 31. Oktober 2012

<<< Die Entführung aus dem Serail
I love you, you're perfect, now change >>>